Turner. Horror and Delight. Im LWL Museum für Kunst und Kultur.

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Turner. Horror and Delight 8. November 2019 – 26. Januar 2020 LWL-Museum für Kunst und Kultur, Münster

Joseph Mallord William Turner (1775–1851) ist einer der bedeutend­sten Maler seiner Zeit. Schiffsunglücke in England, Lawinenabgänge in der Schweiz, lichtdurchflutete Landschaften in Italien und die flüchtige Aura einer Stadt – Turner bannte das Schrecklich-Schöne – Horror and Delight – auf die Leinwand und löst noch heute Gänsehaut aus.

... wie glücklich ist der Landschaftsmaler, der von jeder Veränderung in der Natur in jedem Moment erregt ist...

J. M. W. Turner

Turner, der Reisende

Turner, der Reisende

J.M.W. Turner unternimmt zeitlebens Skizzenreisen. Er will die Natur mit eigenen Augen sehen, Wind und Wetter hautnah erleben.

Mit 14 Jahren tritt Turner in die Royal Academy ein. Der Unterricht besteht hauptsächlich im Zeichnen nach Gipsabgüssen, seltener nach lebenden Modellen. Die Lehre ist ganz auf die Historienmalerei ausgerichtet. Öl- und Landschaftsmalerei muss sich Turner selbständig beibringen.

Als 16-Jähriger unternimmt er seine erste Reise. Fast jeden Sommer ist er von nun an unterwegs, zuerst in England, Wales und Schottland, und später, wann immer es die politische Lage erlaubt, auf dem Kontinent.

J. M. W. Turner, Landschaftskomposition mit Burgruine auf einem Felsen, 1792/93 Grafit und Aquarell auf Papier, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Ruinen sind zu Turners Zeit extrem populär. Es gibt kaum eine in Großbritannien, die er nicht gesehen und gezeichnet hat.

J.M.W. Turner, Morgen inmitten der Coniston Fells, Cumberland, 1798 Öl auf Leinwand, 146.8 x 113.5 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Dunkle, gedämpfte Farben wie kühle Grautöne, Braun, Blau und Grün prägen Turners frühe Landschaften. Diese Farbgebung ist damals allgemein gebräuchlich.

J.M.W. Turner, Traeth Mawr, Blick nach Osten Richtung Y Cnicht und Moelwyn Mawr, um 1799 Grafit und Aquarell auf Papier, 54.5 x 76.4 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Seen und Berge in dramatischen Wetter- und Lichtstimmungen: Frühe Reisen nach Wales und Schottland liefern Turner Rohmaterial für Jahrzehnte.

Ruinen sind zu Turners Zeit extrem populär. Es gibt kaum eine in Großbritannien, die er nicht gesehen und gezeichnet hat.

Alpen statt Louvre

Auf seiner ersten Europareise 1802 zieht es Turner so sehr in die Alpen, dass er in Paris nur an die Weiterreise denkt.

Papst Pius der VII. wird im April 1799 in einem Tragsessel über die Alpen getragen ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Die Reise über die Alpen ist bis um 1800 mühe­voll. In Kut­schen, Sänf­ten und Booten werden die Reisen­den durch­ge­schüt­telt, weite Stre­cken müs­sen zu Fuß zu­rück­ge­legt werden. Nach und nach ent­wickeln sich Ende des 18. Jahr­hun­derts bes­sere Wege und Gaststätten. Bereits erscheinen erste Reiseführer, die auf Tagebüchern von Reisenden basieren.

Die Kunst und ins­be­son­dere die roman­tische Li­tera­tur ver­klären die Alpen zum In­be­griff un­be­rühr­ter Natur und ani­mieren die Men­schen, in die Berge zu reisen.

Skizzen­buch und Aquarell-Käst­chen gehören damals ins Reise­ge­päck wie später der Foto­ap­pa­rat oder heute das Smartphone.

John Robert Cozens, Flüelen am Vierwaldstättersee, um 1777/79 Bleistift, Aquarell und Gouache, 32.2 x 43.3 cm, © Tate, London, 2019

Bereits vor seiner ers­ten Schweiz­reise kennt Tur­ner Bil­der der alpi­nen Berg­welt. Ver­mut­lich sind Wer­ke der Maler­kol­le­gen John Ro­bert Cozens und Philippe-Jacques de Loutherbourg aus­schlag­ge­bend für die Wahl seiner Route.

Grand Tour – Bildungsreise für Adlige

Eine große Reise rundet seit der Renaissance die Bildung junger europäischer Adliger ab. Als Grand Tour etabliert sich die Bildungsreise in den Süden, für die sich ein Kanon von Stätten und Sehenswürdigkeiten entwickelt und die zum Vorläufer des Tourismus wird. Die typische Reiseroute verläuft von England per Schiff an die französische Küste, dann weiter über Paris und Lyon in die Provence und zur Côte d’Azur, um über die Alpen nach Italien und in den Vatikan zu gelangen.

Auch die europäischen Künstler reisen in dieser Zeit nach Italien. Das Land mit seinen antiken Stätten gilt lange als Sehnsuchtsort. Hier finden Albrecht Dürer (1471-1528), Peter Paul Rubens (1577-1640), Claude Lorrain (1600-1682), Angelika Kauffmann (1741-1807) und viele mehr Inspiration.

Ich hatte das Glück, einen heiteren, lustigen, kleinen, älteren Herrn kennenzulernen, der wahrscheinlich während der ganzen Fahrt mein Reisegefährte sein wird. Er streckt ständig den Kopf aus dem Fenster, um zu skizzieren, was immer seine Fantasie anregt, und wurde recht zornig, weil der Kutscher nicht warten wollte (…) Nach seinen Gesprächen ist er so etwas wie ein Künstler, wenn nicht ein echter. Vielleicht wissen Sie etwas über ihn. Der Name auf seinem Koffer ist J.W. oder J.M.W. Turner.

Brief eines jungen Engländers auf Geschäftsreise, der mit Turner von Rom nach Bologna fuhr, 1829
J.M.W. Turner, Der Pic d’Œilette, Schlucht des Guiers Mort, Chartreuse; Blick zurück nach St. Laurent du Pont, 1802 Gouache, Grafit und Aquarell auf Papier, 56.5 x 72.8 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Wenn Turner ein interessantes Motiv sieht, lässt er die Kutsche anhalten oder steigt vom Pferd. Der Kutscher sitzt derweil auf einem Felsbrocken und wartet wie auch die übrigen Reisebegleiter. Erst auf der Rück­reise nimmt Turner sich die Zeit, im Pari­ser Louvre die alten Meister zu studieren.

J.M.W. Turner, Die Schöllenenschlucht von der Teufelsbrücke aus gesehen, Gotthard-Pass, 1802 Grafit, Aquarell und Gouache auf Papier, 47 x 31.4 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Bild­ideen im Taschen­format

Rund 300 Skizzenbücher zeugen von Turners steter Suche nach Motiven.

Das Skizzenbuch ist Turners wichtigster Begleiter: Es ist klein, leicht und einfach zu transportieren. Unterwegs skizziert Turner mit Bleistift, Kreide oder Aqua­rell. Ausgehend von Skizzen entwickelt er Kompositions- und Farbkonzepte für seine Aquarelle. Das «Luzerner Skizzenbuch» besteht aus großzügigen, stimmungsvollen Aquarellen des Vierwaldstättersees, in anderen Büchern arbeitet Turner aber auch mit Bleistift an architektonischen Details wie Kirchturmspitzen.

J.M.W. Turner, Luzern, 1844 Speyer und Heidelberg Skizzenbuch, Bleistift auf Papier, 17 x 10.9 cm, © Tate, London, 2019

Ich war oft auf Skizzentour mit ihm. Ich erinnere mich daran, wie er einen Baum hinaufkletterte, um einen besseren Blick zu haben und dort gleich eine farbige Skizze fertigte. Ich habe ihm die Farben hochgereicht, die er verlangte.

Clara Wheeler, Tochter von Turners Freund W.F. Wells

Luzern – eine magische Stadt

In Luzern studiert Turner das einmalige Zu­sammenspiel von Licht, Wetter, See und Bergen.

Auf Turners erster Reise in die Schweiz ist Luzern nur Zwischenstation auf dem Weg nach Süden. Von 1841 bis 1844 besucht der britische Künstler jährlich die Stadt am Vierwaldstättersee.

Dank der strategisch guten Lage am Reuss-Ausfluss und der Nähe zum Gott­hardpass entwickelt sich Luzern Anfang des 19. Jahrhunderts schnell zum Um­schlagplatz zwischen Nord und Süd.

Erstes Dampfschiff, «Stadt Luzern», 1837 Kupferstich für Prospekt Hotel Schwanen, ZHB Luzern Sondersammlung

Ab 1834 verkehrt regelmäßig eine Kut­sche über den Gotthardpass und ab 1837 fährt mit der «Stadt Luzern» das erste Dampfschiff auf dem Vierwaldstättersee. Um 1870 werden bereits rund 70.000 Reisende und bis zu 20.000 Tonnen Güter pro Jahr auf der Passstraße beför­dert.

J.M.W. Turner, Die blaue Rigi, Sonnenaufgang, 1842 Aquarell auf Papier, 29.7 x 45 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Blau schimmert die Rigi in der Ferne, eingehüllt in das goldgelbe Leuchten des Morgens. Hoch am Himmel strahlt noch ein Stern, den Turner mit dem Fingernagel auf das Papier gekratzt hat. Mehr als 30 Aquarelle von der "Königin der Berge" zeugen davon, wie sehr Turner von den schnell wechselnden Lichtstimmungen fasziniert war.

Küssnacht, Vierwaldstättersee: Studienblatt, ca.1842/43 Grafit, Aquarell and Stift auf Papier, 22.8 x 29.2 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Rund um den Vierwaldstättersee sind die Schweizer Mythen von Selbstbestim­mung und Widerstand gegen fremde Ob­rigkeiten angesiedelt. Hier befindet sich der mythische Gründungsort der Eidge­nossenschaft, die Rütli-Wiese, hier spielt die Legende von Wilhelm Tell. Turners Aquarell zeigt den Ort Küssnacht. Auf dem Weg nach Immensee erreicht man die Hohle Gasse, die durch Schillers Drama Wilhelm Tell bekannt wurde.

Dort soll Wilhelm Tell den Reichsvogt Gessler mit einer Armbrust erschossen haben. Friedrich Schillers Drama wird 1804 in Weimar von Johann Wolfgang von Goethe uraufgeführt und ist beste Tourismuswerbung für die Zentral­schweiz.

Stürmische Zeiten – die Neuordnung Europas

Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – die Forderungen der Französischen Revolution bewegen um 1800 ganz Europa. Das aufgeklärte Bürgertum verhandelt die Ideen einer neuen, gerechteren Gesellschaft. Die Menschen diskutieren über Philosophie, Recht, Literatur und Kunst. Auf die Französische Revolution folgt keine stabile, demokratische Ordnung. Die Machtergreifung Napoleons führt zu den nach ihm benannten Kriegen: Europäische Staaten stehen sich in wechselnden Bündnissen gegenüber. Die kriegerischen Wirren schränken das freie Reisen stark ein, aber während des kurzen Friedens von Amiens 1802 strömen zehntausende britische Reisende auf den Kontinent – unter ihnen auch Turner.

Der Wunsch nach einer Republik, in der alle dieselben Rechte haben, führt in verschiedenen europäischen Staaten zu Aufständen und Revolutionen. In deren Folge wird die Schweiz 1848 als moderner Bundesstaat gegründet.

Das Bürgertum wird Anfang des 19. Jahrhunderts zu einer gesellschaftlichen Kraft. Immer mehr Menschen wollen und können reisen. Thomas Cook organisiert 1841 die erste Pauschalreise in England, 1863 die erste in die Alpen. Und sofort gibt es kritische Stimmen. Der Gelehrte John Ruskin, Sammler und Nachlassverwalter Turners, beklagt, dass sich Chamonix in einen «Vergnügungspark» verwandelt habe und prophezeit Luzern eine ähnliche Zukunft mit «einer Reihe symmetrischer Hotelbauten entlang der Seefront».

Venedig – Stadt am Meer

In Turners Bildern, in denen Venedig mal mehr, mal weniger in Dunst und Licht aufgelöst ist, zeigt sich der hervorragende Architekturzeichner.

J.M.W. Turner, Die Seufzerbrücke in Venedig, ca. 1840 Öl auf Leinwand, 86.8 x 117.1 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 kann Turner wieder ins Ausland reisen. Im Sommer 1819 führt ihn seine erste Italienreise nach Rom, Neapel, Florenz und Venedig. Antonio Canaletto hatte gut 100 Jahre zuvor Venedig nahezu fotorealistisch festgehalten. Kupferstiche nach Ansichten von ihm waren beliebte und leicht erhältliche Ware in London. Vermutlich inspirierte der italienische Maler Turner zu dieser detaillierten Darstellung der Gebäude. Turner maß sich immer wieder gern mit berühmten Künstlerkollegen, um sein Können unter Beweis zu stellen.

Man kann aus Venedig nicht abreisen, ohne sofort wiederkommen zu wollen!

Claude Monet
J.M.W. Turner, Vendig; Die Treppen von Santa Maria della Salute, Blick auf den Grand Canal, 1840 Grafit, Aquarell und Stift auf Papier, 22.1 x 32.3 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Und auch Turner sollte wiederkehren. In den Jahren 1819, 1833 und 1840 verbringt er insgesamt vier Wochen in der Lagunenstadt. In dieser Zeit entstehen über 500 Skizzen.

Turners Landschaften

Turners Land­schaften

Turner wertet die Landschaftsmalerei auf: Was vorher nur Hintergrund war, wird zum Hauptmotiv.

Die malerischen Gattungen sind zu Turners Zeit hierarchisch geordnet. Die größte Anerkennung genießt die Historienmalerei. Sie greift historische, religiöse, mythische oder literarische Themen auf, verherrlicht Herrscher und Schlachten. Auf Rang zwei folgt das Porträt. Landschaften und Stillleben stehen als Darstellungen unbelebter Dinge auf der untersten Stufe der Hierarchie.

 

 

Als Turner 1789 in die Royal Academy eintritt, wird das Fach Landschaftsmalerei nicht unterrichtet. Seine Bemühungen, einen entsprechenden Lehrstuhl einzurichten, scheitern. Stattdessen hält er Vorlesungen zur Perspektive.

 

J.M.W. Turner, Die Schlacht von Fort Rock, Aostatal, Piemont, 1796, ausgestellt 1815 Gouache und Aquarell auf Papier, 69.6 x 101.5 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Eine tiefe Schlucht, Menschen stürzen in den Abgrund. Im Vordergrund trauern zwei Frauen um einen der toten Kämpfer. Doch der Blick wird in die Bildmitte zum dramatischen Himmel gezogen. Turner verbindet die Dramatik der Natur und der unsicheren Straße mit dem menschlichen Drama. Doch er hat kein reales Ereignis gemalt. Am Fort Roch im Aostatal findet 1796 während Napoleons Einmarsch in Italien keine Schlacht statt. Das fiktive historische Ereignis dient Turner vor allem dazu, die Landschaft in der Hierarchie der verschiedenen Genres zu stärken.

 

 

Turners großes Vorbild: Claude Lorrain

Turner studiert Lorrains sonnendurchflutete, römische Landschaften in verschiedenen Museen. In seinen Bleistiftskizzen notiert er sachlich Beobachtungen zu Farbgebung und Komposition.

Turner verfügt in seinem Nachlass, dass in der Londoner National Gallery zwei seiner Gemälde neben zwei von Lorrain hängen müssen. Dazu gehört Lorrains ländliche Idylle mit Mühle. Der Maler nutzt dabei die Heirat von Isaak und Rebekka als Vorwand, um ein atmosphärisches Landschaftsbild zu schaffen, indem der Blick in die Ferne gezogen wird.

Claude Lorrain, Land­schaft mit Hoch­zeit von Isaak und Re­bek­ka (die Mühle), 1648 Öl auf Leinwand, 152.3 x 200.6 cm, National Gallery, London

Die Landschaft dient in der Malerei lange Zeit nur als Kulisse für historische, mythologische oder biblische Szenen. Erst in der Renaissance wird sie zum eigenen Genre und im 17. Jahrhundert zum selbständigen Motiv. Aber erst um 1800 beginnt mit der Romantik eine Blütezeit der Landschaftsmalerei. Die Natur übernimmt im Maschinenzeitalter die Rolle einer heilen, ursprünglichen Welt. Verlage geben pittoreske Landschaften in Auftrag für populäre Bücher und Reiseberichte.

Delight­ful Horror

In der Romantik wird Landschaft zum Spiegel menschlicher Gefühle und Sehnsüchte.

Als Reaktion auf die Industrialisierung wenden sich die Menschen der Landschaft zu. Wer es sich leisten kann, entflieht den verschmutzten Städten mit ihren rußigen Himmeln aufs Land, das immer mehr zum Thema wird. Das Publikum im warmen Salon freut sich an aufziehenden Gewittern und Stürmen in den Gemälden.

Mit «Delightful Horror», dem wohligen Schauer, formuliert Edmund Burke das Konzept des Erhabenen und prägt damit die Epoche der Romantik. Turner inszeniert das Erhabene meisterhaft. Er nutzt dafür schlechtes Wetter, Schluchten und spektakuläre Pfade, aber auch die Wahrzeichen der Industrialisierung wie Dampfschiffe und Lokomotiven.

J.M.W. Turner, Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1810 Öl auf Leinwand, 90,2 x 120 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Gedicht zum Gemälde Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1810 J.M.W. Turner

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"Die sinkende Sonne erglänzt in Abschiedstrauer
Fahl und unheilvoll durch den drohenden Sturm;
In dichten Wirbeln treibt der Schnee
Herab auf Schnee,
Bis die immense Last das Felsenband durchbricht
Und talwärts donnert, Kiefernwälder;
Auftürmende Gletscher mit sich reißt,
Das Werk von Jahrmillionen
Walzt alles mit sich nieder. Es folgt
Zerstörung,
Und die Müh des Menschen, seine Hoffnung – zunichte."

J.M.W. Turner, Gedicht zum Gemälde Niedergang einer Lawine in Graubünden, 1810

Ein neues Motiv: Lawinen

Turner hat nie eine Lawine erlebt, aber er gibt das Naturereignis greifbar wieder. 1808 liest er einen Artikel über ein Lawinenunglück in Graubünden, bei dem 25 Menschen in einer Hütte zu Tode kommen. Er kennt auch die La­winenbilder von Philipp Jacques de Louther­bourg (1740–1812).

Der Vergleich mit Loutherbourg zeigt: Turner ist in jeder Hinsicht direkter. Spiegelt sich bei Loutherbourg das Entsetzen in den Gesichtern der fliehenden Menschen, so zielen Turners Schneemassen direkt aufs Publikum. Nur die Hütte, die vom Felsbrocken zertrümmert wird, erzählt von der Machtlosigkeit der Menschen gegenüber der Naturgewalt. Allein mit der weißen Farbe wird die Wucht der Schneemas­sen inszeniert. Die Unmittelbarkeit von Turners Malerei entspricht hier erstmals der Vehemenz der Naturgewalt.

Philip James De Loutherbourg, Eine Lawine in den Alpen, 1803 Öl auf Leinwand, 109.9 x 160 cm, © Tate, London, 2019

Das Erhabene ergreift, das Schöne entzückt...

Per Kirkeby, Künstler, 1984

Maler der modernen Welt

Maler der modernen Welt

Dampfmotoren, Elektrizität, neu ent­deckte chemische Elemente: Zu Turners Lebzeiten verändern neues Wissen und neuartige Technologien die Welt. Tur­ners Bilder spiegeln diese Entwicklung.

Die in­dust­riel­le Re­vo­lu­tion be­ginnt in Eng­land. Ab Mit­te des 18. Jahr­hun­derts ver­än­dert sie die Welt. Wis­sen­schaft­liche Ent­de­ckungen und tech­nische Er­fin­dun­gen gehen Hand in Hand. Der Ex­peri­men­tal­physi­ker Michael Fara­day (1791–1867) tüf­telt an Elekt­ri­zi­tät und Mag­ne­tis­mus. Humphry Davy (1778–1829) ent­deckt neue Ele­men­te und Wil­liam Her­schel (1738–1822) un­be­kannte Plane­ten. Die Royal Society der Natur­wis­sen­schaft be­fin­det sich im gleichen Ge­bäu­de wie die Royal Aca­demy der Künste.

Die tech­ni­schen Vor­le­sun­gen sind extrem po­pu­lär und ver­brei­ten sich um­gehend in ge­druck­ter Form. Ideen und Ent­de­ckun­gen werden in den Salons dis­ku­tiert. Turner muss nur den Raum wechseln, um seine wis­sen­schaft­liche Neu­gier zu stil­len. Er dis­ku­tiert mit Fara­day Pig­ment­re­zep­te und ist mit der Astro­no­min und Ma­thema­ti­ke­rin Mary Somer­ville (1780–1872) eng be­freun­det.

J.M.W. Turner, Der Held der hundert Schlachten, um 1800/10, überarbeitet und ausgestellt 1847 Öl auf Leinwand, 127.5 x 158.5 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Zahnräder, Kohlköpfe und Geschirr – Turner malt eine Gießerei um 1805 als düsteren Allzweckraum. 1847 übermalt er die Werkstatt. Er fügt gleißendes Licht hinzu und die Bronzestatue des Duke of Wellington, die eben aus der Gussform gelöst wird. Turner rückt mit dieser unkonventionellen Darstellung die Heldenverehrung buchstäblich in ein neues Licht. Farbgebung und Malweisen von 1805 und 1847 unterscheiden sich klar voneinander. Sie verdeutlichen Turners Entwicklung vom frühen Stil mit düsteren Farbtönen zum Alterswerk, in dem die Pinselbewegungen das Geschehen dynamisieren.

J.M.W. Turner, Dampfer und Feuerschiff; Studie für «Das Kriegsschiff Temeraire», um 1838/39 Öl auf Leinwand, 91.4 x 119.7 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Wracks sind in Turners Gemälden immer nur Segelschiffe. Im Bild der «Fighting Temeraire» verknüpft Turner die vergangene Ära mit der Zukunft. Das alte, glorreiche Kriegsschiff segelt nicht mehr selbst. Es wird von einem kleinen, kompakten Dampfschiff zur Verschrottung die Themse hochgezogen. In der Vergangenheit beherrschte Großbritannien die Meere, nun ist es eine führende Industrienation.

Dampfschiffe und Lokomotiven sind die Symbole der modernen Welt. Die Rauchwolke ist ihr Zeichen am Himmel, die stampfenden Motoren ihr Sound. Turner ist fasziniert von den dampfgetriebenen Transportsystemen. Mit Seestücken, Darstellungen von Schiffen auf dem Meer, feiert er den Triumph der Dampfkraft.

J.M.W. Turner, Die letzte Fahrt der Temeraire 1838, 1839 Öl auf Leinwand, 91 x 122 cm, © National Gallery 2019

Im En­twurf ist die See rau. Im fer­ti­gen Ge­mäl­de bil­det sie eine glat­te spie­geln­de Flä­che für den Auf­tritt der bei­den ge­gen­sätz­li­chen Schif­fe. Die tief ste­hen­de Son­ne taucht die letz­te Rei­se des ehe­ma­li­gen Schlacht­schiffs in ein me­lan­cho­li­sches Licht.

Atmosphäre ist mein Stil.

J. M. W. Turner

Die Effekte unterschiedlicher Lichtverhältnisse sind das A und O von Turners Malerei. Rauch, Dampf, Dunst, Regen, Gischt – sie alle kommen erst mit Licht zur Geltung und verschleiern die Gegenstände zugunsten einer übergreifenden Atmosphäre. Turner zeigt die Farben als Erscheinungen des Lichts anstatt als Eigenschaft von Dingen. Damit erzeugt er einen lebendigen, pulsierenden Raum.

Im Auge des Sturms

Schlech­tes Wet­ter ist ganz nach Turners Ge­schmack. Seine Bil­der durch­ziehen peit­schen­der Regen, auf­sprit­zende Gischt und dunkle, be­droh­liche Wolken.

Hawkey - Hawkey - komm her - komm her! Schau dir dieses Gewitter an! Ist es nicht großartig? - Ist es nicht wunderbar? - Ist es nicht erhaben?

J. M. W. Turner
J.M.W. Turner, Stürmische See mit Schiffbruch, um 1840/45 Öl auf Leinwand, 107.4 x 138 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Wolkenlose Himmel gibt es in Turners Bildern nicht. Manchmal sind es nur ein paar zarte Schönwetterwolken, manchmal drohende, dunkle Gebilde, aber immer strukturieren sie den Himmel und laden das Dargestellte atmosphärisch auf. Für Turner ist deshalb ein Vortrag von Luke Howard (1772–1864) besonders interessant, der 1802 an der Royal Society zum ersten Mal seine Entdeckung vorstellt: Es gibt nur vier grundlegende Wolkenformen, nämlich Cirrus (Federwolke), Stratus (Schichtwolke), Cumulus (Haufenwolke) und Nimbus (Regenwolke). Das neue Wissen fließt sogleich in die Malerei ein. Bereits um 1815 werden die Wolkentypen in Künstlerhandbüchern erwähnt. Die Wolken in Turners Bildern sind benennbar und ermöglichen Rückschlüsse auf das Wetter.

… die größte Schwierigkeit in der Kunst des Malers ist: bewegte Luft darzustellen, wie einige den Wind nennen. Um diesen Wind anzuzeigen, muss man die Ursache ebenso darstellen wie seine Wirkung, und zwar mit mechanischen Hieben, welche die Stärke der Natur haben, aber permanent gefesselt sind.

J.M.W. Turner, in einem Skizzenbuch, um 1810

Luft, Rauch, Wolken und Wasser bilden eine einzige blaugraue Masse in Bewegung. Mit den sichtbaren, rotierenden Bewegungsspuren des Farbauftrags stellt Turner eine Parallele zur Dynamik der Natur her. Er stellt Ursache und Wirkung der Kräfte dar.

J M.W. Turner, Schneesturm - Ein Dampfer vor einer Hafeneinfahrt gibt Signale in der Untiefe und bewegt sich nach dem Lot, der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel von Harwich auslief, 1842 Öl auf Leinwand, 91.4 × 121.9 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Mit dem Untertitel «Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die Ariel von Harwich auslief» setzt Turner selbst das Gerücht in die Welt, er habe sich an den Mast des Schiffs binden lassen, um den Sturm hautnah zu erleben. Doch ist kein Schiff dieses Namens bekannt.

Turner betont mit der Geschichte das Erlebnis des Wetters mit allen Sinnen. Wie der Maler, so soll auch das Publikum das Unwetter fühlen, nicht nur sehen. Indem er die Empfindung ins Zentrum rückt, inszeniert er das Erhabene des Dampfschiffes, das gegen den Sturm ankämpft.

Das System Turner

Das System Turner

Turner fordert die Sehgewohnheiten des zeitgenössischen Publikums heraus. Als Alleskönner und Provokateur ist er ebenso berühmt wie berüchtigt. Malerei wie Karriere verfolgt er kompromisslos.

Dieser Herr hat früher schon mit Rahm, Schokolade, Eigelb oder Johannisbeerpudding gemalt – hier verwendet er nun sein ganzes Küchenarsenal.

Kritik der Jahresausstellung in der Royal Academy, Athenaeum, 14.05.1842
Richard Doyle, J.M.W. Turner, 1846 Holzschnitt, 8.5 cm x 10.5 cm, York City Art Gallery, York

Turners außergewöhnliche Kunst zieht immer wieder Kritik und Spott auf sich. Lebensmittel kommen zwar keine zum Einsatz, unkonventionelle Werkzeuge aber schon. Turner bearbeitet seine Ölgemälde und Aquarelle mit dem Fingernagel oder dem Pinselstiel. Zudem interessiert er sich für neue Farbpigmente. In seinen frühen Werken verwendet er organische und mineralische Farben. Industrielle Produkte nutzt er, sobald sie auf den Markt kommen: Kobaltblau erscheint in seinen Werken um 1810, Chromgelb um 1815 und Smaragdgrün um 1830. Gegen Ende seines Lebens nutzt Turner die neu erfundene Tuben-Farbe, die es den Impressionisten ermöglichte, mit Ölfarben in der freien Natur zu malen.

J.M.W. Turner, Licht und Schatten – der Abend der Sintflut, 1843 Öl auf Leinwand, 104 x 104 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019.

Die Kunst­akademie

Mit der Gründung der Royal Academy beginnt der Aufstieg der britischen Kunst in Europa. Turner bleibt der Kunstakademie sein ganzes Leben lang verpflichtet.

Die Royal Academy wird 1768 von Künstlern und Architekten gegründet. Von dieser neuen, schlagkräftigen Vertretung für britische Kunst profitiert Turner. Seine Karriere ist unvergleichlich: als 14-Jähriger tritt er in die Akademie ein. Ein Jahr später zeigt er bereits das erste Aquarell und 1796, im Alter von 21 Jahren, sein erstes Ölgemälde «Fischer auf See» in der renommierten Jahresausstellung der Akademie. Mit ihm will sich der junge Maler gezielt in die Tradition der niederländischen Marinemalerei einreihen, die seit dem 17. Jahrhundert in Großbritannien sehr beliebt ist.

J.M.W. Turner, Fischer auf See, 1796 Öl auf Leinwand, 112 x 142.5 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019.

Als Turner mit 24 Jahren das vor­ge­schrie­bene Alter er­reicht, wird er sofort zum asso­ziierten Mit­glied der Akademie, 1802 zum Voll­mit­glied und 1807 zum Pro­fessor gewählt. 35 Jahre lang wirkt er als Pro­fessor für Perspek­tive und zeit­weise als Inte­rims­direk­tor. Sein starker Cockney-Akzent und der chao­tische Stil machen seine Vor­le­sungen aller­dings eher un­populär.

William Parrott, Turner am Varnishing Day, um 1846 Öl auf Holz, 45 x 43.7 cm, Collection Museums Sheffield on long-term loan from the Guild of St. George

Turner richtet seinen Arbeitsrhythmus auf die Jahresausstellung an der Akademie im Frühling aus. Während der «Varnishing Days», der «Firnistage», werden die Gemälde mit einem transparenten Schutzanstrich, dem sogenannten Firnis, fertiggestellt. Der Anlass ist öffentlich und dient Turner jeweils zur Demonstration seiner Virtuosität. Um Konkurrenten auszustechen, verändert er manchmal seine Gemälde.

Eine kleine Geschichte der Vernissage

Von den Varnishing Days beziehungsweise vom französischen Wort für Firnis «Vernis» leitet sich auch das Wort für Vernissage ab – heute die Bezeichnung für eine Ausstellungseröffnung. Ursprünglich waren die Werke am Anfang der Vernissage noch nicht ganz fertig. Das Firnis bedeckt als Schutzlack die ganze Malschicht und schließt diese ab, nur weiße Glanzlichter werden manchmal noch darauf gesetzt.

Legendär ist eine Anek­do­te von 1832: Tur­ner hat ein See­stück in Grau­tö­nen ein­ge­reicht. Als er in die Aka­demie kommt, hängt es neben John Con­stables Gemälde «Open­ing of ­ Bridge», das in kräf­ti­gen Rot­tö­nen leuch­tet. Tur­ner greift kur­zer­hand zum Pin­sel und malt einen roten Fleck in die Wel­len im Vor­der­grund. Erst am nächs­ten Tag ver­wan­delt Tur­ner den Farb­fleck in eine Boje.

Turners Show­room

Ein ausgeprägter Geschäftssinn gepaart mit cleverer Selbstvermarktung – Turners ökonomisches System ist ausgesprochen modern.

George Jones, Innenraum von Turners Galerie: Der Künstler zeigt seine Werke, um 1852 Öl auf Leinwand/ Pappe, 14 x 23 cm, The Ashmolean Museum, Oxford, presented by Mrs. George Jones, the artist's widow, 1881

Ich hasse verheiratete Männer. Sie opfern niemals [für] die Künste, sondern denken immer an ihre Pflicht gegenüber ihren Frauen und Familien oder an irgendeinen Müll dieser Art.

J.M.W. Turner

In Großbri­tan­nien löst das In­dus­trie­bür­ger­tum den Adel als wich­tigs­te Kunst­samm­ler ab. Das er­for­dert neue Ver­triebs­ka­nä­le. Tur­ner ar­bei­tet für diesen neuen Markt und er­fin­det sich als mo­der­nen Aus­stel­lungs­künst­ler. Be­reits als 13-Jäh­ri­ger zeigt er Aqua­rel­le im Bar­bier­sa­lon d­es Vaters und er­zielt damit erste kleine Auf­träge. 1804 ric­htet er seine eigene Gale­rie ein, um seine Werke stets einer in­te­res­sier­ten Kund­schaft prä­sen­ti­eren zu kön­nen.

In späte­ren Jahren fer­tigt Turner Mus­ter­stu­dien an. Zu­sam­men mit seinem Agen­ten Thomas Griffith kann er so Motive an­prei­sen und ver­kaufen, be­vor die Bil­der ge­malt sind. Turners Sy­stem ist ein frühes Bei­spiel künst­le­ri­scher Selbst­ver­mark­tung, sein Show­room ein Vor­läufer des Künst­lermu­seums.

J.M.W. Turner, Dido erbaut Kar­thago, 1815 Öl auf Leinwand, 155.5 x 230 cm, National Gallery, London, Public Domain, CC BY-NC-ND 4.0

Turner weiß selbstbewusst um die Bedeutung seines Œuvres und beginnt, Werke zurückzuhalten. 1825 lehnt er den Verkauf des Gemäldes «Dido erbaut Karthago» von 1815 ab, weil er es zu seinen Meisterwerken zählt. Das Gemälde seines Showrooms zeigt: Das Bild nimmt bis zu seinem Tod eine zentrale Position ein. Die Präsentation dient also nicht nur dem Verkauf, sie ist auch Leistungsschau. Mit seinem Testament plant Turner seinen Nachruhm. Die 1824 gegründete National Gallery erhält rund 300 Ölgemälde und 20.000 Aquarelle und Zeichnungen mit der Auflage, dafür eine Galerie zu errichten. «Dido erbaut Karthago» soll gemäß Testament neben einem Gemälde seines Vorbildes Claude Lorrain hängen.

Die Geburt des Kunst­museums

1750 wird im Palais du Luxembourg die erste Gemäldegalerie Frankreichs eröffnet, 1759 folgt das British Museum und 1779 mit dem Fridericianum das erste Museum Deutschlands. Davor ist Kunst öffentlich nur in Kirchen und auf Plätzen zu sehen. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts öffnen Regenten im Zuge der Aufklärung ihre Sammlungen nach und nach für die Öffentlichkeit. Zur Zeit der Französischen Revolution wird 1793 der Louvre als «Zentrales Kunstmuseum der Republik» eröffnet. Napoleon lässt darin die erbeuteten Kunstwerke aus ganz Europa präsentieren, um die Überlegenheit Frankreichs zu demonstrieren. Die Werke werden mittels Erläuterungen, öffentlichen Führungen und billigen Katalogen vermittelt. Damit ist das Kunstmuseum, wie wir es heute kennen, geboren.

Anfang des 19. Jahrhunderts folgen zahlreiche Initiativen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich in Vereinen organisiert. Sowohl der Westfälische Kunstverein, gegründet 1831, als auch der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster, von 1825, hatten sich nach den großen politischen Umbrüchen dem Retten und Bewahren von kulturellen Gütern verschrieben. Ihr Bestand bildet den Grundstock der Sammlung des LWL-Museums für Kunst und Kultur, das 1908 mitten im Stadtzentrum von Münster eröffnet wurde.

Turner - ein Maler der Moderne?

Turner – ein Maler der Moderne?

Viele Künstler des Impressionismus feierten Ende des 19. Jahrhunderts Turner als einen ihrer Vorläufer.

Das Aquarell wirkt auf den ersten Blick abstrakt. Ein rot-oranger Streifen trennt eine helle und eine graue Fläche voneinander – fast wie bei Mark Rothko in den 1950er Jahren. Doch der zweite Blick zeigt: Im Grau tummeln sich Seeungeheuer. Die Wirkung ist erstaunlich modern. Aber ist das Bild überhaupt fertiggestellt?

Turner arbei­tet an vielen Wer­ken gleich­zei­tig. Sein Nach­lass um­fasst daher­ zahlreiche unfer­tige Ge­mälde. Der Sta­tus der vielen Aqua­relle ist noch un­klarer, gibt es darun­ter doch schnelle Skiz­zen, Muster­studien sowie fertig aus­gear­bei­tete Werke. Vor allem die unfertigen und dadurch modernen wirkenden Arbeiten prägen die Sicht der Nachwelt auf Turner. Auch wenn dieser von sich gesagt hat, "Undeutlichkeit ist meine Stärke", sind seine Werke nicht ungegenständlich in einem modernen Sinn.

Ich denke dauernd darüber nach wie ich ohne den Punkt malen könnte [...] Die Frage geht mir dauernd im Kopf rum. Ich sollte den Louvre besuchen, um bestimmte Maler anzuschauen, die unter diesem Gesichtspunkt interessant sind. Doch ist das nicht sinnlos, wenn dort keine Turner hängen…?

Camille Pissarro, in einem Brief an seinen Sohn Lucien, 06.09.1888

Wie Turner wollen die Impressionisten die Farbe aufwerten und sie vom Gegenstand lösen. Ihre Malweisen sind jedoch grundverschieden. Während Turner die Farbtöne ineinander verschleift, um Flüchtigkeit oder Geschwindigkeit darzustellen, setzen die Impressionisten die Farben nebeneinander. Erst im Auge des Betrachters sollen sie sich mischen.

J.M.W. Turner, The Thames above Waterloo Bridge, c.1830/05 Öl auf Leinwand, 90.5 x 121 cm © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019 Claude Monet, ‘Waterloo Bridge, overcast weather’, 1900 Öl auf Leinwand, gerahmt: 87 x 122 x 8 cm 65 x 100 cm, Reg. No.304. Collection & image © Hugh Lane Gallery, Dublin.

Trotz aller Experi­mentier­freude: Turner entwickelt eine Malerei weiter, die im 17. Jahrhundert in den Niederlanden begründet wird: Die atmosphärische Wiedergabe von Wind, Wetter und Licht. Turner sieht sich selbst in der Tradition der alten Meister, deren Werke er studiert und denen er auf Augenhöhe begegnet. Die Impressionisten feiern Turner zwar als ihren Vorläufer, doch in der Kunstw­issenschaft wird bis heute diskutiert, ob und inwiefern Turner ein Maler der Moderne ist.

J.M.W. Turner, Sonnenuntergang über einem See, um 1840 Öl auf Leinwand, 107.4 x 137.7 cm, © Tate: Accepted by the nation as part of the Turner Bequest 1856, © Photo: Tate, 2019

Seine Idee war es, das Licht selbst zu malen, unabhängig von den Gegenständen, auf die es scheint…

Théophile Thoré-Bürger